Das Dilemma eines lebenden Guru
Shekhar Kapur unterhält sich mit Sadhguru über das Dilemma, ein lebender Guru zu sein
Der indische Filmemacher Shekhar Kapur unterhält sich mit Sadhguru über das Dilemma, ein lebender Guru zu sein. Warum verehrt die Welt bereitwillig großartige Menschen, die verstorben sind, hat aber Schwierigkeiten damit, einen Guru zu seinen Lebzeiten zu akzeptieren?
Shekhar Kapur: Sadhguru, ein großer Teil des Problems, das die Menschen haben, wenn sie über einen Guru nachdenken, ist die Frage, ob der Guru noch am Leben ist. Wenn man sich die Welt anschaut, verehrt jeder Menschen, die verstorben sind.
Ich kenne dich als Freund, ich umarme dich als Freund, doch ich kann deine Füße berühren, denn du bist ein verwirklichter Mensch, du bist ein Guru. Warum ist es für die Menschen so schwierig, diesen Unterschied zu erkennen? Sie sagen: „Nun, er ist ja doch ein Mensch, und warum behauptet er, ein verwirklichter Mensch zu sein? Wir halten alle verwirklichten Menschen erst für verwirklicht, wenn sie nicht mehr da sind.“
Sadhguru: Sie müssen tot sein. Bedauerlich, nicht wahr?
Shekhar Kapur: Ja. Ich habe versucht, dieses Wort nicht zu benutzen, aber sie müssen tot sein. Das ist ein großes Problem. Lass uns also darüber sprechen.
Sadhguru: Das liegt daran, dass man eine gewisse Intelligenz und Bewusstheit braucht, um den Wert dessen zu erkennen, was hier und jetzt ist. Zu sagen, dass jemand großartig war, der vor tausend Jahren hier war, und ihn zu verehren, ist sehr einfach, weil eine Million Menschen das sagen. Jeder ist von der Vergangenheit fasziniert, denn Generationen von Menschen haben das so gesagt.
Selbst als Krishna noch lebte, wie viele Menschen erkannten ihn wirklich? Duryodhana sagte über ihn: „Dieser Kerl kann mit einem Kind spielen, mit einem Mann kämpfen, mit einer Frau Liebe machen, mit alten Frauen schwatzen... Das ist kein Gott. Das ist ein Gauner.“ So hatten sie ihn gesehen. Jetzt, Tausende von Jahren später, ist es sehr einfach, weil jeder sagt: „Krishna ist Gott“, also sagst du es auch. Du trittst nur einer Gruppe bei, du siehst nichts von Krishna selbst.
Aber wenn du etwas erkennen musst, das heute lebendig vor dir steht, brauchst du eine gewisse Fähigkeit, Bewusstheit und Intelligenz. Als Jesus noch lebte, du weißt, was für schreckliche Dinge sie ihm angetan haben. Jetzt will ihn die halbe Welt verehren. Als er da war, haben es nur eine Handvoll Leute verstanden. Nachdem er nicht mehr da ist, tun es alle. Das ist nur ein Fanclub, keine Schülerschaft.
Shekhar Kapur: Lass uns also über das Konzept eines Guru sprechen. Was ist ein Guru und wie findet man einen Guru? Und warum haben verschiedene Menschen verschiedene Gurus? So wie es den einen Gott gibt, könnte es auch den einen Guru geben, oder?
Sadhguru: Das ist falsch. In Indien haben wir 36 Millionen Götter und Göttinnen! Was ist also ein Guru? Gu bedeutet „Dunkelheit“, ru bedeutet „Vertreiber“ – jemand, der deine Dunkelheit vertreibt, ist ein Guru. Du kannst ihn eine Glühbirne nennen, wenn du willst. Er ist an. Das ist alles. Was du nicht sehen kannst, kann er dich sehen lassen – das ist ein Guru. Oder um es anders auszudrücken, weil du eine Reise antreten willst und einen Guru suchst, ist er im Grunde genommen wie eine lebende Straßenkarte. Wenn du dich auf unbekanntes Terrain begeben willst, wirst du feststellen, dass eine Straßenkarte äußerst wichtig ist. In der Tradition heißt es: „Der Guru ist größer als Gott“, denn eine lebende Straßenkarte ist wichtiger als alles andere, wenn man sich in unbekanntem Terrain verirrt.
„Kann ich meinen Weg nicht ohne einen Guru finden?“ Diese Frage entspringt einem bestimmten egoistischen Standpunkt. „Warum kann ich es nicht selbst tun?“ Schau, du benutzt doch eine Armbanduhr, oder? Ich gebe dir alle Teile für die Uhr. Du baust deine eigene Uhr, lass es mich sehen. Ich bitte dich nicht, einen Computer oder ein Raumschiff zu bauen. Selbst für eine einfache Sache wie eine Uhr kannst du ein ganzes Leben brauchen. Du gehst daher zu einem Uhrmacher für eine Uhr. Was ist also dein Problem, einen Guru für etwas aufzusuchen, das du nicht kennst?