Die Atem-Körper-Bindung
Sadhguru betrachtet die Rolle des Atems, der mehr ist als nur der Luftaustausch, und spricht in diesem Zusammenhang über unsere Bindung an den Körper
Sadhguru: Atem ist nicht nur der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid. Für die verschiedenen Ebenen des Denkens und der Emotionen, die du durchläufst, nimmt dein Atem verschiedene Muster an. Wenn du wütend, friedlich, glücklich oder traurig bist, macht dein Atem subtile Veränderungen durch. Wie auch immer du atmest, auf diese Weise denkst du. Wie auch immer du denkst, auf diese Weise atmest du.
Der Atem kann als Werkzeug benutzt werden, um viele Dinge mit dem Körper und dem Geist zu tun. Pranayama ist die Wissenschaft, bei der durch bewusstes Atmen auf eine bestimmte Weise dein Denken, Fühlen, Verstehen und Erfahren des Lebens verändert werden kann.
Wenn ich dich bitte, deinen Atem zu beobachten, was für die Menschen heutzutage die geläufigste Übung ist, dann denkst du, du beobachtest den Atem, aber du bist nur in der Lage, die Empfindungen wahrzunehmen, die durch die Bewegung der Luft verursacht werden. Es ist wie wenn jemand deine Hand berührt und du denkst, dass du die Berührung der anderen Person wahrnimmst, aber in Wirklichkeit kennst du nur die Empfindungen, die in deinem Körper entstehen; du weißt nicht, wie die andere Person sich fühlt.
Der Atem ist wie die Hand des Göttlichen. Du fühlst ihn nicht. Er ist nicht die Empfindungen, die durch die Luft verursacht werden. Dieser Atem, den du nicht wahrnimmst, wird als Koorma Nadi bezeichnet. Er ist eine Schnur, die dich mit diesem Körper verbindet – eine ununterbrochene Schnur, die immer weitergeht. Wenn ich deinen Atem wegnehme, werden du und dein Körper auseinanderfallen, weil das Wesen und der Körper durch die Koorma Nadi gebunden sind. Dies ist eine große Täuschung. Es sind zwei, aber sie tun so, als wären sie eins. Es ist wie bei der Eheschließung – sie sind zwei, aber wenn sie herauskommen, tun sie so, als wären sie eins. Es gibt hier zwei Menschen, den Körper und das Wesen, zwei diametral entgegengesetzte, aber sie tun so, als wären sie eins.
Wenn du durch den Atem reist, tief in dich selbst, zum tiefsten Kern des Atems, wird er dich zu jenem Punkt bringen, an dem du tatsächlich an den Körper gebunden bist. Wenn du einmal weißt, wo und wie du gebunden bist, kannst du es nach Belieben lösen. Bewusst kannst du den Körper so mühelos ablegen, wie du deine Kleidung ablegst. Wenn du weißt, wo deine Kleidung gebunden ist, ist es leicht, sie fallenzulassen. Wenn du nicht weißt, wo sie gebunden ist, lässt sie sich nicht lösen, egal in welche Richtung du ziehst. Du musst sie auseinanderreißen. Ähnlich ist es, wenn du nicht weißt, wo dein Körper an dich gebunden ist: Wenn du ihn fallenlassen willst, musst du ihn auf irgendeine Weise beschädigen oder zerreißen. Aber wenn du weißt, wo er gebunden ist, kannst du ihn ganz klar auf Distanz halten. Wenn du ihn fallenlassen willst, kannst du ihn einfach bewusst fallenlassen. Das Leben wird ganz anders.
Wenn jemand willentlich den Körper vollständig ablegt, sagen wir, das ist Mahasamadhi. Dies wird allgemein als Mukti oder ultimative Befreiung bezeichnet. Es ist ein gewaltiges Gefühl des Gleichmuts, bei dem es keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem, was innerhalb des Körpers ist, und dem, was außerhalb des Körpers ist. Das Spiel ist vorbei.
Das ist etwas, wonach sich jeder Yogi sehnt. Bewusst oder unbewusst arbeitet jeder Mensch darauf hin – sie wollen sich ausdehnen und dies ist die ultimative Ausdehnung. Es ist nur so, dass sie sich dem Unendlichen schrittweise nähern, was ein sehr langer und unmöglicher Prozess ist. Wenn du zählst – 1, 2, 3, 4 – wirst du nur zu einem endlosen Zählen. Du wirst niemals das Unendliche erreichen. Wenn man die Vergeblichkeit dessen erkennt, wendet man sich ganz natürlich nach innen, um dies zu tun – indem man den Lebensprozess vom Körper losbindet.