Das Denken und das Ego zähmen
Sadhguru erläutert was es bedeutet, wenn Patanjali den Yoga als „chitta vritti nirodha“ definiert oder als Weg, die Modifikationen der Denksubstanz zur Ruhe zu bringen
Sadhguru: Die Suche nach der Wahrheit ist selbst eine große Illusion, denn was immer wir als „die Wahrheit“ bezeichnen, ist immer und überall. Wir müssen nicht nach ihr forschen oder sie suchen. Sie ist immer da. Das einzige Problem im Moment ist, dass du nur in der Lage bist, das Leben durch die begrenzte Dimension zu erfahren, die wir „Denken“ nennen.
Patanjali definierte Yoga als „chitta vritti nirodha“. Das bedeutet, wenn du die Modifikationen oder die Aktivität der Denksubstanz zur Ruhe bringst, dann bist du da: Alles ist eins geworden in deinem Bewusstsein. Yoga hat unzählige Techniken, unzählige Methoden, um auf einen stillen Geist hinzuarbeiten. Wir mögen in unserem Leben vielen Dingen nachgehen, wir mögen die Prozesse durchlaufen, die wir Errungenschaften unseres Lebens nennen, aber über die Modifikationen der Denksubstanz hinauszugehen, ist die grundlegendste und gleichzeitig die höchste Errungenschaft, weil dies einen Menschen von dem befreit, was er sucht, von dem, was innen und was außen ist – von allem. Er wird zu einer ultimativen Möglichkeit, wenn er nur seinen Geist zur Ruhe bringt.
Wonach momentan die meisten Menschen in ihrem Leben streben, ist im Grunde genommen, Glück und Frieden zu erlangen. Aber die meisten verbringen ein ganzes Leben und schaffen es nie, wirklich glücklich oder friedlich zu werden. Welches Glück und Frieden man im Leben auch kennt, meistens ist das so zerbrechlich, dass es immer von der äußeren Situation abhängt. Daher versuchen die meisten Menschen ihr Leben lang, eine perfekte äußere Situation zu schaffen – was unmöglich zu erreichen ist. Yoga fokussiert sich auf die innere Situation. Wenn du eine perfekte innere Situation schaffen kannst, kannst du unabhängig von der äußeren Situation in vollkommener Glückseligkeit und in Frieden sein.
Der stille Held
Das erinnert mich an eine bestimmte Begebenheit, die sich gemäß der südindischen Yogatradition ereignet hat. Einst gab es da einen Gläubigen, dessen Name Tatvaraya war. Tatvaraya begegnete in seinem Leben einem ganz wunderbaren Meister, dessen Name Swaroopananda war. Dieser Meister sprach nie. Als ein Mensch sprach er hier und da, aber als Guru sprach er nie. Dies war ein stiller Meister. Tatvaraya fand enorme Glückseligkeit und Freude im Zusammensein mit seinem Guru, und er komponierte ein Bharani. Ein Bharani ist eine bestimmte Komposition in Tamil, die in der Regel nur für große Helden komponiert wird.
Die Öffentlichkeit reagierte und protestierte, dass ein Bharani nicht für einen Mann komponiert werden kann, der noch nicht einmal seinen Mund aufgemacht hat, der nichts getan hat, außer still dazusitzen. So etwas kann nur für einen großen Helden komponiert werden – einen, der tausend Elefanten erlegt hat. Und dieser Mann hatte noch nicht einmal seinen Mund geöffnet. Ganz sicher verdient er kein Bharani! Tatvaraya sagte: „Nein, mein Meister verdient mehr als das, aber das ist alles, was ich geben kann.“
Darüber gab es einen großen Streit und eine große Debatte in der Stadt. Da beschloss Tatvaraya, dass der einzige Weg, diese Angelegenheit zu klären, darin bestand, diese Leute zu seinem Meister zu bringen. Sein Guru saß gerade ruhig unter einem Baum. Alle gingen und setzten sich dorthin, und Tatvaraya erläuterte das Problem: „Die Leute protestieren, weil ich ein Bharani zu Euren Ehren komponiert habe. Sie sagen, es soll nur für große Helden komponiert werden.“
Der Meister hörte all dies und saß einfach still da. Alle saßen still. Stunden vergingen; sie saßen still. Ein paar Tage vergingen; sie saßen still. Nach etwa acht Tagen, in denen sie alle nur still dagesessen hatten, bewegte Swaroopananda seinen Geist. An diesem Punkt wurde der Denkprozess eines jeden aktiv. Dann erkannten sie, dass ein wahrer Held jemand ist, der diese brünstigen Elefanten gezähmt hat, die man „Denken“ und „Ego“ nennt. Und diese beiden Elefanten waren acht Tage lang für alle still, nur durch das Sitzen mit dem Meister. Also sprachen sie: „Ja, das ist der Mann, der wirklich ein Bharani verdient.“